In Maurice Ravel’s piano work, his compositional development can be traced very well in fast motion: from the impressionistic Jeux d’eau from 1901 to Le tombeau de Couperin, written between 1914 and 1917, with neoclassical echoes. The Spanish pianist Alfonso Gómez congenially traces the fascinating development in these and other works.

Der Klavier-Kosmos des Maurice Ravel

von Hubert Moßburger

Das Menuet antique ist das erste veröffentlichte, 1898 von Ravel selbst edierte Klavierstück. Ravels Vorliebe für Tanz und Historisches lässt ihn weitere vier Menuette für das Klavier schreiben. Der Titel des dem Freund und Pianisten Ricardo Viñes gewidmeten und 1895 komponierte Menuet antique erscheint paradox. Weder wurden in der Antike Menuette getanzt, noch ist das Stück im Stil der Antike komponiert. Wahrscheinlich sind Anachronismus und tanzcharakterlicher Widerspruch („Majestueusement“) eine ironisch Provokation nach dem Vorbild Chabriers, dessen Menuet pompeux (1881) Ravel orchestrierte. Nach eigenen Angaben finden sich in Ravels Menuett schon ansatzweise Stileigenheiten, die seine Schreibweise in der Folgezeit charakterisieren. Gleich zu Beginn erklingt unvorbereitet ein dissonanter, Grundton und Leitton zugleich anschlagender Akkord, womit der Wesenskern dur-moll-tonaler Harmonik neutralisiert ist. Der Anfang des Menuetts klingt mehr wie ein Aufschrei als eine elegante Aufforderung zum Tanz. Es folgen konzertierende Sechszehntelfiguren zu barocken Quintfall-Sequenzen. Nach den aufwärts stürmenden, gegen den Takt verschoben Sechzehntelgruppen kadenziert dieser „Fortspinnungstypus“ im neomodal leittonlosen fis-äolisch von der Moll-Dominante zur picardisch verdurten Tonika der Tonart der V. Stufe. Modales, Barockes und Modernes verbinden sich zu dem typisch historisch „vermischten“ Stil Ravels. Die dreiteilige Form ist streng symmetrisch: Menuett (45 Takte) – lyrisches Trio (32 Takte) – Menuett (45 Takte). Kurz vor der Reprise werden die Motive des Menuetts und des Trios wie die Themen einer Doppelfuge simultan miteinander kombiniert, was Ravel bei seinem letzten Klavier-Menuett aus dem Tombeau de Couperin wiederholt.

Die 1899 komponierte Pavane pour une infante défunte ist der Prinzessin Edmond de Polignac gewidmet, einer wichtigen Musikmäzenin, in deren Pariser Salon auch Ravel verkehrte. Wer aber die im Titel genannte Infantin sein soll, bleibt im Dunkeln. Es ist jedoch kaum denkbar, dass die damals erst 34-jährige Mäzenin und Widmungsträgerin für den Komponisten bereits gestorben war (in Wirklichkeit verstarb sie erst 1943). Für Ravel ist das Stück „keine Trauerklage für ein totes Kind, sondern die Vorstellung von einer Pavane, wie sie vielleicht von so einer kleinen Prinzessin in einem Gemälde von Velázquez getanzt wurde.“ Später jedoch distanzierte er sich, wie in La Valse, von seiner programmatischen Deutung und erklärte, er hätte den Titel allein wegen seiner wohlklingenden Assonanz gewählt. Lässt man Ravels frühere Deutung gelten, läge inhaltlich ein vager Bezug zur Pavane de la Belle au bois dormant aus Ma Mère l’oye von 1908 nahe: Dornröschen ist, wie die Infantin, von adeliger Herkunft und befindet sich in einem todesähnlichen Schlaf. Die Pavane der Infantin machte Ravel, der bis dahin als Verfasser „anarchistischer Musik“ galt, mit einem Schlag berühmt. Doch zwei Jahre später äußerte sich Ravel in der Revue musicale selbstkritisch über seine alte Pavane. Er könne jetzt „keine Qualitäten mehr an ihr erkennen“ und führt als Mängel „den allzu spürbaren Einfluss Chabriers und die ziemlich armselige Form“ an. Sicherlich erreicht die individuelle Anverwandlung von Chabriers Stil im Frühwerk Ravels noch nicht den Grad des 1913 komponierten À la manière de Chabrier; und die Formteile sind noch nicht organisch miteinander verbunden, obwohl Ravel die einfache Reihungsform der alten Pavane (A-A-B-B-C-C) rondoartig erweitert und variiert hat (A-B-B’-A’-C-C’-A”). Doch besitzt das Stück andere Qualitäten. Die eingängige Melodien-Seligkeit wird von einer bereits deutlich impressionistischen Harmonik, sowie von einer Begleitung artifiziell gehoben, die anfangs wie ein klassischer Alberti-Bass daherkommt, jedoch ab der zweiten Takthälfte an sich dissonante, sperrige Klänge erzeugt, die in der paradoxen Spielanweisung „ziemlich zart, aber mit breitem Klang“ abgemildert werden. Die Neigung zu Moll, die Oktavengänge und die teilweise terzlosen Klänge lassen die Stimmung in der zweiten Hälfte des A-Teils ins Einsam-Traurige kippen, das Ravels distanziertes Wesen in seiner oben zitierten Beschreibung leugnete. Trotz seiner Selbstkritik orchestrierte Ravel seine Pavane elf Jahre später und dirigierte sie noch 1928 auf seiner USA-Tournee.

Die Ravels „cher maitre Gabriel Fauré“ gewidmeten Jeux d’eau („Wasserspiele“) können als Gründungswerk des impressionistischen Klavierstils gelten. Léon-Paul Fargue, einer der Freunde Ravels, erkannte beim ersten Hören dieses Werks seine Einzigartigkeit und Neuheit. Er schrieb begeistert: „Es gab ein unbekanntes Feuer, einen ganzen Fächer von Wellen und Feinheiten, die keinem sonst gehörten.“ Ravel selbst reklamierte in einem Brief an den Kritiker Lalo die chronologische Priorität der Erfindung neuer pianistischer Techniken noch vor Debussy: „Die Jeux d’eau allerdings sind bereits Anfang 1902 erschienen, als es von Debussy lediglich das Triptychon Pour le piano gab: ein Werk, das ich leidenschaftlich bewundere, wie ich ihnen wohl nicht zu sagen brauche, das aber rein pianistisch gesehen nicht sehr viel Neues gebracht hat. Lassen Sie mich hier nur an das (1895 komponierte und 1898 edierte) Menuet antique erinnern, in dem Sie bereits ansatzweise diese Schreibweise finden können.“ Und aus der Rückschau notiert Ravel in seiner autobiografischen Skizze: „Die Jeux d’eau, 1901 erschienen, stehen am Ursprung aller pianistischen Neuerungen, die man in meinem Werk hat bemerken wollen.“

Als Motto, das er über die Jeux d’eau setzt, zitiert Ravel eine Zeile aus dem Gedicht Fête d’eau („Wasserfest“) von Henri de Régnier: Dieu fluvial riant de l’eau qui le chatouille („Flussgott, über das Wasser lachend, das ihn kitzelt“). Nach Ravels eigener Aussage ist sein Klavierstück „inspiriert vom Geräusch des Wassers und von den musikalischen Klängen, die man aus Springbrunnen, Wasserfällen und Bächen heraushören kann.“ Wasser, als fließendes, in Wellen spiegelndes Element ist ein häufiges Sujet nicht nur der impressionistischen Malerei. Wie Claude Monet hat sich auch Claude Debussy vom Wasser inspirieren lassen (La Mer oder Reflets dans l’eau). Ravel hat seinen Titel aus Franz Liszts Klavierstück Les Jeux d’eau à la Villa d’Este (1883) entlehnt. Allerdings hat er die christliche Symbolik des Wassers als ewiges Leben, das in Liszts Bibelzitat aufscheint, in ein diesseitigs Bild vom lachenden Flussgott umgedeutet, den das Wasser „kitzelt“. Trotz aller Wasserspiele stellt Ravel in der für ihn typisch sachlich-distanzierten Art klar, dass sein Stück „wie ein Sonatensatz auf zwei Motiven beruhe, „ohne sich allerdings der klassischen Tonarten-Ordnung zu unterwerfen“. Das erste Motiv besteht nicht aus Melodie mit Begleitung im klassisch-romantischen Sinn. Es setzt sich vielmehr aus wellenförmigen Arpeggien im hohen Diskant und einer zweistimmigen Achtelbewegung der linken Hand zusammen. Das Ganze bleibt zunächst ohne Bassregister und erweckt mit seinem plagalen Wechsel zwischen dem Tonika-Septnonenklang und dem Subdominantseptakkord einen schwebenden Eindruck. Dabei sind rechtes und linke Pedal zugleich anzuwenden, „um mehr den Eindruck von Vibrationen in der Luft als Klarheit der einzelnen Töne zu erreichen“, wie Ravel seinem Freund und Pianisten Ricardo Viñes anweist. Das zweite Thema ist pentatonisch, stellt jedoch kaum einen Tonartenkontrast zum ersten Thema dar. Eine kurze Melodie in der linken Hand wird von Triolen-Arpeggien in Sekundparallelen begleitet. Neu im Sinne impressionistischer Spiel- und Satztechniken sind in den „Wasserspielen“ die Sekund-Spritzer im zweiten Thema (T. 17), die Quint-Quart-Glocken (T. 27 f.), der Akkordtriller und das pentatonische Glissando (T. 47) und die Verwendung extremster Register (in T. 48 erfolgt anstelle des anschließenden langen Orgelpunkts Gis ein Absturz ins geräuschhafte Subkontra-A; die höchsten Wasserfontänen schießen bis zum ais”” in T. 47 und h”” in T. 64 hoch). Klänge schichtet Ravel zu Nonen- Undezimen- und Tredezimenakkorden auf, arpeggiert sie bitonal (Fis- und C-Dur in der Solokadenz) oder dünnt sie zu archaisch terzlosen Quinten aus (T. 11-16) und führt sie in Mixturen parallel. Ravel greift auf historische bzw. exotische Tonsysteme der Pentatonik, Modalität und Ganztönigkeit zurück und erweitert den für die impressionistische Klaviermusik so charakteristischen, oft polyrhythmisch strukturierten Tonsatz auf drei Schichten bzw. Notensysteme mit flirrenden (hier: spritzigen) Figuren in der Oberstimme, Melodie in der Mittellage und Bass oder Harmonie im unteren System (T. 81-84). Am Ende ergießt sich Ravels „Wassermusik“ in ausgedehnten Arpeggien zum zweiten Thema und verdunstet in einem E-Dur-Akkord mit großer, klangreizender Septime, die für das ganze Stück prägend war.

Das 1904 komponierte, aber erst 2011 posthum veröffentlichte Menuet ist mit seinen 23 Takten das kürzeste selbständige Klavierstück Ravels. Er hat es auf die Rückseite einer Übung seines Kompositionsschülers Maurice Delage notiert. Sollte es sich um ein Lehrbeispiel handeln, könnte die Aufgabenstellung gewesen sein, wie aus einem Minimum an Material ein Maximum an Ausdruck hervorgebracht werden kann. Ravels dreiteilige Menuett-Miniatur (ohne Trio) mit 8+8+7 Takten beginnt im zart-luftigem Äolisch, zuerst auf cis, dann auf gis, changiert im Mittelteil über dem neuntaktigen Orgelpunkt Gis zwischen Dur und Moll, baut dann mit chromatisch ansteigenden Großterzen Spannung auf, die sich in der veränderten Reprise im „forte“ quintfällig entlädt, um schließlich in verkürzten Phrasen (Eintakter) zur cis-Moll-Tonika im pp herabzusinken. Aus dem Anfangsteil gewinnt Ravel ein stufenweise absteigendes Dreitonmotiv, das in der Art durchbrochener Arbeit eines Streichquartetts durch verschiedene Stimmen geführt wird und schließlich – etwas traurig nach dem tröstlichen, aber als neapolitanischer Akkord erscheinenden D-Dur – in den Grundton cis’ mündet.

Warum komponiert Ravel nach dem genialen Wurf der Jeux d’eau und den diese noch übersteigernden Miroirs eine klassizistisch anmutende Sonatine? Äußeren Anstoß zur Komposition erhielt Ravel durch einen am 12. März 1903 in der Weekly Critical Review ausgeschriebenen Wettbewerb zur Komposition eines Sonatensatzes in fis-Moll mit höchstens 75 Takten Umfang. Der Sieger würde 100 Francs erhalten und sein Werk publiziert werden. Ravel musste zur Teilnahme überredet werden. Doch wurde der Wettbewerb nach mehrmaligem Aufruf abgebrochen, da Ravel angeblich der einzige Teilnehmer war und den vorgeschriebenen Umfang um neun Takte überzogen hatte. Im Lauf der folgenden beiden Jahre ergänzte Ravel noch zwei weitere Sätze. Im Dezember 1905 erschien das dreisätzige Werk unter dem Titel Sonatine.

Das Diminutiv „Sonatine“ suggeriert ein künstlerisch weniger anspruchsvolles, gleichsam zu kurz geratenes Werk für Anfänger im Klavierspiel. Wenn so eine kleine Sonate aber um 1900 komponiert wurde, liegt der Vorwurf einer bloßen Stilkopie nahe. Ravels Sonatine hat indes nur eines mit dem klassischen Vorbild gemein: die Kürze. Aber die hat es in sich. Die drei Sätze sind motivisch äußerst dicht gearbeitet. Sie sind durch das Kopfmotiv der fallenden Quarte aus dem 1. Satz thematisch miteinander verklammert, wie es im großen Sonatenzyklus seit dem späten Beethoven und später in den atonalen Miniaturen der Schönbergschule der Fall war. Motivische Substanzgemeinschaft schließt die drei Sätze zu einem monothematischen Zyklus zusammen.

Zwischen den Jeux d’eau, einem Meilenstein des französischen Impressionismus und der impressionistischen Harmonik der Miroirs muss sich die Sonatine nicht verstecken. Sie stellt vielmehr ein Bindeglied in Ravels Entwicklung des Klavierstils dar. Der 1. Satz weist einen typisch impressionistischen Mehrschichtensatz auf. Der Oberstimmenmelodie folgen zwei Schatten in der linken Hand: ein identischer (eine Oktave tiefer) und einer in Unterquarten, jedoch im pochenden Achtelabstand (notierte Sechzehntel mit Pausen). In diese leeren Quint-Quart-Oktav-Mixturen hinein werden ihre Terzen als flirrende Zweiunddreißigstel ergänzt. Auch bleibt die Harmonik nicht hinter den Jeux zurück. Im variierten zweiten Thema der Durchführung des 1. Satzes (T. 40) tritt ein Quartenklang auf, der exakt der Gitarrenstimmung gleicht (e-a-d-g-h-e) und entfernt an spanisches Kolorit erinnert. Im 2. Satz wird ab T. 45 fünfmal die große Sekunde d’-e’ angeschlagen, die dann ab T. 74 zur kleinen Sekunde verschärft wird (his mit nachschlagendem cis’). Schließlich tritt in T. 76 der Ton d zur kleinen Sekunde dazu. Solche dreitönig-chromatischen Mini-Cluster werden in Alborada del gracioso aus den Miroirs wiederaufgenommen. Im Finale findet sich eine unvermittelte Parallelverschiebung von Dur-Dreiklängen in einer Ganztonleiter (T. 56 f.), sowie die Folge von Septnonenakkorden im symmetrischen Kleinterzzirkel Fis-a-C-Es-Fis (T. 162 f.). Haben die Jeux noch auf einem großen Durseptakkord geschlossen, mündet der Kopfsatz der Sonatine in einen großen Nonenakkord, das Finale sogar in einen Dur-Dreiklang mit übermäßiger None (gisis = enharmonische Mollterz a), so dass Dur- und Mollterz zugleich (mit Pedal) erklingen. Trotz dieser progressiven Momente war der Sonatine großer Erfolg beschieden. Sicher auch, weil diese Elemente mehr im Verborgenen blieben, als in den Jeux oder Miroirs. Ihre leichtere Spielart, ihre Kürze und Klarheit, sowie der melodisch-klangliche Eingängigkeit des langsamen Mittelsatzes („Mouvement de Menuet“), der sogar eine Einzelausgabe erfuhr, machten die Sonatine neben der Pavane zu einem regelrechten Hit. Ravel selber hat seine Sonatine immer wieder auf die Konzertprogramme gesetzt und gespielt, und sie, anders als die Pavane, vor Selbstkritik verschont.

Sind Ravels Werke zuvor noch bei Kleinverlagen erschienen, so hat sich mit der Sonatine der große Durand-Verlag für den Komponisten interessiert. Die Ironie der Entstehungsgeschichte: Anstelle der im Wettbewerb ausgeschriebenen 100 Francs Preisgeld bekam Ravel von Durand einen Exklusivvertrag mit ein monatliches Festgehalt in Höhe von 1000 Francs. Für einen Komponisten ist ein Exklusivvertrag der Jackpot. Ausgerechnet mit einer kleinen Klaviersonate hatte Ravel das große Los gezogen.

Die 1904-05 entstandenen fünf Miroirs („Spiegel“) hängen eng mit dem um Ravel gebildeten Künstler- und Freundeskreis der sog. „Apachen“ zusammen. Fünf auserwählten Mitgliedern widmet er die einzelnen Stücke. Angeblich zeigte sich Ravel von einem Bericht seines Freundes Ricardo Viñes über Debussys Vorstellung einer formal freien Musik begeistert, die wie improvisiert, wie aus einem Skizzenbuch herausgerissen wirke. Ravel beschäftigten bei der Komposition der Miroirs ähnliche Gedanken, er wollte sich ohnehin „von den Jeux d’eau freimachen“. Hatte er in den Jeux den neuartigen (impressionistischen) Klavierstil für sich in Anspruch genommen, so hebt er nun die Neuartigkeit der Harmonik hervor: „Die Miroirs (1905) bilden eine Sammlung von Klavierstücken, die in der Entwicklung meiner Harmonik eine recht beträchtliche Wandlung darstellen, haben sie doch auch diejenigen Musiker aus der Fassung gebracht, die bis dahin am meisten an meine Kompositionsweise gewöhnt waren.“ Die weit über die Jeux hinausgehende Neuartigkeit der Harmonik, die selbst wilde Apachen zu irritierten vermochte, fand Ravel in einer inflationären Dissonanz-Anreicherung durch Sekund-Anreicherung tonaler Klängen bis hin zu kleinen Clustern (Alborada, T. 166 f.) und in der Ausweitung der Tonalität bis an ihre äußersten Grenzen. Gegenüber den Jeux treten in den Miroirs aber auch neue Klaviereffekte auf, wie ausufernde Arpeggien (Une barque), rasende Tonrepetitionen (Alborada) oder Doppel-Glissandi in Terzen und Quarten (Alborada). Die Virtuosenstücke Noctuelles, Une barque sur l’océan und Alborada vermochte Ravel nach eigener Angabe nicht korrekt vortragen.

Den Titel Miroirs wollte Ravel nicht als Selbstbespiegelung oder gar im Sinne einer subjektivistischen bzw. impressionistischen Kunsttheorie verstanden wissen. Ein Satz von Shakespeare habe ihm geholfen, „eine völlig entgegengesetzte Position zu formulieren: ‘Das Auge sieht nicht sich selbst, sondern durch Nachdenken, durch andere Dinge’ (Julius Cäsar, Akt I, Szene 2).“ Die Miroirs sind weniger direkte Widerspiegelungen realer Erlebniswelten, sondern deren Brechungen, die symbolistisch gelesen werden können: die „Nachtfalter“ sind Nachtschwärmer (Apachen), das Boot auf dem Ozean steht für das unsichere menschliche Leben und das „Morgenlied“ wird nicht wirklich gesungen, sondern von einem Hofnarren als Ritter-Ständchen parodiert.

Das erste Stück, die Noctuelles (Nachtfalter), ist dem Dichter Léon-Paul Fargue gewidmet, bzw. durch eine Gedichtzeile von ihm angeregt, in der es um fliegende Nachtfalter geht. Das Bild von Motten, die magisch von einer Lichtquelle angezogen werden und wie irre um sie kreisen, spiegelt sich bereits in den ersten Takten wider, aus denen der gesamten Satz „entfaltet“ wird. Kreisend wiederholte melodische Bewegungen in komplexer Schichtung des Tonsatzes: die linke Hand spielt Dominantseptakkorde, die mixturenartig um die V. Stufe As dieses kaum in Des-Dur greifbaren Stücks kreisen. Zu dem ganztönigen Tonvorrat verläuft die untere Schicht der rechten Hand in einer chromatischen Skala, wozu die obere Schicht (Quarten und Terzen) den diatonischen Bereich des dorischen Modus bringt. Insgesamt ergeben die drei überlagerten Tonsysteme elf verschiedene Töne (der zwölfte – die „Tonika“ des – wird für den dritten Takt aufgespart). Den schwarmartigen Eindruck dieses hochliegenden, eng in einander verflochtenen Stimmengewirrs verstärkt noch die polyrhythmische Konstellation von drei gegen vier Noten. Im Einzelnen strukturell streng geordnet (wie der Flug eines einzelnen Nachtfalters), ergibt sich im Ganzen (und schnellem Tempo) ein kaum fassbares Chaos von Tönen (den Schwarm der Nachtfalter). Der mehrschichtige Satz mündet immer wieder in metrisch freie, einstimmige Läufe, die dann in Sekunden abwärts taumeln, als wären einzelne Motten der Lichtquelle zu nahe gekommen, verzweifelt in die Höhe geschossen und torkelnd abgestürzt. Der langsame Mittelteil gemahnt mit seinen glockenartig repetierenden Liegetönen (wie in der unheimlichen Galgenszene aus dem Gaspard de la nuit) und den choralhaften Klängen an den Tod der Nachtfalter. Und vielleicht schwenkte Ravels ironischer Zeigefinger auf sich selbst und die Pariser Nachtschwärmer, die sich als „Noctuelles“ bezeichneten, und die von Dingen wussten, die sie magisch anzogen, aber schnell für sie zu heiß werden konnten. „Das älteste dieser Stücke“, schreibt Ravel über seine Miroirs, „und das typischste von allen, ist meiner Meinung nach das zweite der Sammlung, die Oiseaux tristes. Darin erwähne ich Vögel, die sich in der Erstarrung eines sehr finsteren Waldes und in den heißesten Stunden des Sommers verflogen haben.“ Ravel hat es Ricardo Viñes gewidmet, der das Stück an einem „Apachen-Abend“ 1904 uraufgeführt hat. „Ich war der einzige, dem es gefallen hat“, notierte er in sein Tagebuch. Dass dieses beklemmende Naturbild „trauriger Vögel“, Ravels engstem Freundeskreis (mit Ausnahme des Pianisten) nicht zugesagt hat, liegt an der radikalen Modernität dieses Stücks, das sich aus zwei Vogelrufen entwickelt: einer langsamen Tonrepetition und dem Ruf einer Amsel in Form eines schnellen, bogenförmigen Arpeggios in komplexerer Rhythmik (in ihrem Bewegungsimpuls erinnert die Figur an Schumanns unheimliche Waldszene „Vogel als Prophet“ op. 82, Nr. 7). Die depressive Stimmung entsteht aus dem sehr langsamen Tempo, der kargen und spröd-dissonanten, oft terzlosen Klanglichkeit. Hinzu kommt eine Form, die sich nach außen hin disparat gibt. Die „Erstarrung“ zeigt sich in den zahlreichen Liegetönen, den sich lethargisch ausbreitenden Klangflächen und in den ostinaten Bewegungen. Die Takte 4-5 sind vierschichtig angelegt: der wiederholte Vogelruf (Repetition des Anfangs) im Diskant, ein mehrmaliger Terzruf im Alt und eine unregelmäßige Wellenbewegung im Tenor werden von einer hohlen Bordun-Quinte grundiert, die terzweise abwärts verschoben wird, ohne einen Zentral- oder Grundton zu etablieren. Ab und zu scheinen Vögel im hohen Diskant kurz zu zwitschern oder aufzuflattern, fallen jedoch immer wieder in ihre lethargische Stimmung zurück. Am Ende wird diese Waldstimmung noch langsamer (encore plus lent“) und es scheint, als würde der leidenschaftliche Waldspaziergänger Ravel dunkel und wie von Ferne („sombre et lointain“) noch den letzten Nachhall eines Vogelrufs vernehmen, bevor sich sein Klang gänzlich verliert („perdendo“).

Ab dem dritten „Spiegel“ wechselt Ravel von tiefen b– in helle #-Tonarten (Nr. 4 hat nur am Anfang ein b vorgezeichnet). Une barque sur l’océan ist der bildkräftigste Satz der Miroirs. Ravel besaß ein Gouache-Bild namens „Ozean“ seines Freundes und Malers Paul Sordes, dem er das Tongemälde der „Barke auf dem Ozean“ gewidmet hat. Es ist das umfangreichste Stück der Miroirs, noch schwieriger zu spielen als die Jeux d’eau, deren „Wasserspiele“ in Brunnen oder Bächen nun im wilden Element der Meeres fortgeführt werden. Über 139 Takte türmen sich unablässig Wassermassen in Form von schnellen, wellenartigen, die gesamte Klaviatur überschwemmenden Arpeggien auf, die dann wieder in sich zusammenbrechen. Zunächst liegen sie in der linken Hand, gleichsam unter dem Boot, das im Diskant durch ein schaukelndes melodisches Motiv dargestellt wird. Im zweiten Teil werden die Arpeggien von der rechten Hand übernommen, schwappen über das Boot hinweg, das sich nun in der linken Hand befindet, bis nur noch wilde Wellenbewegungen zu hören sind. Dann taucht das melodische Motiv wieder auf, neue Wellen stürmen heran, bis sich am Ende der Sturm wieder beruhigt.

Alborada del gracioso („Morgenlied des Narren“) ist dem Musikwissenschaftler und Kritiker Michel-Dimitri Calvocoressi gewidmet. „Alborada“ ist ein Ständchen, mit dem sich der Ritter in der Tradition mittelalterlicher Troubadoure bei Tagesanbruch von der Geliebten verabschiedet. „Gracioso“ aber ist der Spaßmacher, der Narr aus dem spanischen Lustspiel. Entsprechend greift hier Ravel, wie so oft, zum spanischen Kolorit. Wie bereits in der Sérénade grotesque von 1893, wird das Klavier nach Art einer Gitarre behandelt, bei der die Saiten zu rauen und „falschen“ Akkorden trocken und aggressiv geschlagen werden (in T. 166 f. sogar als dreitönig-chromatischer Cluster). Im Mittelteil der eher skizzenhaft und kapriziös als logisch wirkenden Form erklingt ein lyrischer Solo-Gesang („expressif en récit“), dessen Liebespathos von kurzen Partien rhythmischer Akkordschläge ironisch gebrochen wird. Zum Ende hin verdichtet Ravel sein Material zu einer Stretta. Bei diesem virtuos-burlesken Scherzo hört und sieht man förmlich den Freier, wie er unterm Fenster seiner „Dulcinea“ vergeblich ein Ständchen bringt, ohne erhört oder überhaupt wahrgenommen zu werden, und wie er in den maschinenartigen Tonrepetitionen eines überdrehten „stile concitato“ immer wütender auf seine Gitarre einschlägt. Spieltechnisch ist es das schwerste Stück der Miroirs. Die brillante Klaviertechnik mit exzessiven Tonrepetitionen und Quart- und Terz-Glissandi verbindet Ravel mit einer orchestral wirkenden Registrierung, die nicht erst in der Orchesterfassung ihren farbenprächtigen Zauber entfaltet.

La vallée des cloches („Das Tal der Glocken“) soll Ravel beim Anhören des Mittagsgeläuts der Pariser Kirchenglocken eingefallen sein und ist seinem Schüler Maurice Delage gewidmet. Wie Wasser und (Zauber-) Spiegel (oder beides wie in den Reflets dans l’eau von Debussy), spielen auch Glocken eine zentrale Rolle impressionistischer Inspiration. Ihr obertonreicher Klang, ihr vibrierendes Gemisch aus unterschiedlichen Stimmungen und ungleichmäßigen, zufällig wirkenden Rhythmen, ihr Nachhallen sowie die Erinnerung an die fernöstlichen Gamelan-Orchester aus der Pariser Weltausstellung machen sie zu einem idealen Gegenstand der Stilisierung durch das glockentongleiche Klavier. Ihre Notation auf drei Notensystemen visualisiert die räumliche Wirkung in verschiedenen Registern aus unterschiedlichen Entfernungen mehrerer zugleich klingender Glocken in verschiedenen Geschwindigkeiten. Ravels Glocken werden nacheinander eingeführt, bis sie im 6. Takt in fünf unterschiedlichen Satzschichten zusammen ertönen: zuerst die Oktav-Glöckchen, dann die bewegteren pentatonischen Glöckchen in Quartparallelen, im 4. Takt tiefere Quart-Glocken; im 6. Takt treten zur cis-Pentatonik noch zwei disharmonische Glocken hinzu: der einmalige tiefe Schlag auf dem Kontra-G und die Tonrepetition einer mittleren Glocke zum Ton eis. Auf „minimal music“ der 1970er und 80er Jahre weisen die sich überlagernden und verschiebenden rhythmisch-metrischen Konstellationen kurzer „pattern“ voraus, deren fingierte Unregelmäßigkeit die zufällig nacheinander oder zusammenfallenden Glockenschläge assoziiert. Die Sechstolen der rechten Hand, die ohne Akzentuierung vorzutragen sind, können einmal als Triolen (zu Achteln in der Gegenstimme), ein andermal als Quartolen (selbstläufig durch den unteren Ton gis) oder als 4+2 bzw. 2+4 Sechzehntel (bei Viertel in der Gegenstimme) aufgefasst werden. Die Takte 10-11 lassen mit ihren vierfach differenzierenden Parametern Tondauer, Tonhöhe, Dynamik und Artikulation schon den punktuellen Serialismus ahnen. Im Mittelteil (beginnt in b-Moll, das zur cis-Pentatonik des ersten Teils enharmonisch terzverwandt ist) erhebt sich ein durchgehender, etwas melancholischer Gesang. Er wird von Bordun-Quinten grundiert und mit ostinaten Quartakkorden begleitet, die sich mit mixloydischen Dreiklangspendeln abwechseln (f-Moll – B-Dur und c-Moll – F-Dur). Am Ende erklingt noch einmal das Glockengeläut des Anfangs, rein pentatonisch, ohne disharmonische Schwingungen der Glockentöne G und eis. Während der letzten drei Takte verhallt das Geläut mit den für das gesamte Stück prägenden Quartenakkord gis-cis-fis, wie er als erster Akkord im dritten Takt bereits exponiert wurde.

Gaspard de la nuit. 3 Poèmes pour piano d’après Aloysius Bertrand entstand 1908 und bildet den virtuosen Gipfel in Ravels pianistischem Schaffen. Der Komponist notiert in seinen autobiographischen Skizzen lapidar: „Gaspard de la nuit, Stücke für Klavier nach Aloysius Bertrand, sind drei romantische Gedichte von transzendenter Virtuosität.“ Wie Franz Liszts in seinen Etudes d’execution transcendante, geht Ravel über alle bisher bekannte Schwierigkeiten hinaus. Die hinsichtlich ihrer Virtuosität grenzüberschreitenden Rahmenstücke, die „Wassernixe“ und der „Kobold“, widmete Ravel den Pianisten Harold Bauer und Rudolph Ganz, den Galgen aber dem Musikschriftsteller und Kritiker Jean Marnold, dem Ravel in einem Brief schreibt: „Lieber Freund, ich habe die Absicht, Ihnen Le gibet zu widmen. Es ist nicht so, dass ich denke, Sie verdienen ein Seil, um sich aufzuhängen, sondern es ist das am wenigsten schwere Stück der drei. Sie werden es spielen können, was ich, selbstredend ohne Ihre Qualitäten als Virtuose schmälern zu wollen, von den anderen nicht zu hoffen wagen würde.“ Letzteres dürfte auch für den Komponisten selbst zugetroffen haben, denn der langsame Satz war der einige, den er aus dem Gaspard auf eine Rolle für mechanisches Klavier aufgenommen hat.

Anregung zu diesen Stücken dürfte die im gleichen Jahr (1908) wie Ravels Stücke erschienene Neuauflage des Gedichtbands von Aloysius Bertrand mit dem Titel „Gaspard de la nuit“ gewesen sein. Neben der Erstausgabe von 1842 war Ravel auch die Ausgabe von 1869 bekannt, deren vollständiger Titel „Gaspard de la nuit. Fantaisies à la manière de Rembrandt et de Callot“ lautete. Während Rembrandts Bilder von einem magischen Hell-Dunkel durchzogen sind, weist die zweite „Manier“ der Gedichte Bertrands auf E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callots Manier, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Zeichner mit Hang zum Grotesken und Skurrilen war, was bereits Robert Schumann zu seinen „verrückten“ Kreisleriana op. 16 anregte. Ähnlich der Hoffmannschen Schauer- und Gespenster-Romantik drehen sich die Gedichte Bertrands um das Nächtliche, das Traumhafte, um Phantasmen und Ausgeburten einer dem Dunklen zuneigenden Imagination. Am 17. Juli 1908 schreibt Ravel an Ida Godebska: „Nach viel zu langen Monaten des Heranreifens wird Gaspard de la nuit nun endlich das Tageslicht erblicken (…). Das geht mit dem Teufel zu, dass Gaspard endlich entsteht, aber das ist logisch, schließlich hat Er ja die Gedichte geschrieben.“ Der unheimliche „Gaspard“ schleicht wie ein Geist nächtens durch die drei von Ravel ausgewählten Gedichte Bertrands: einmal verhindert er die Liebe zwischen Mensch und Natur (-wesen), ein andermal beschwört er eine düstere Galgenszene herauf, schließlich treibt er als infernalischer Zwerg sein Unwesen.

Anstelle von „3 Klavierstücke für das Klavier“ nennt Ravel seinen Zyklus „3 Gedichte für das Klavier“ und hebt damit ihre poetische Bedeutung hervor: die Klavierstücke sind selbst Gedichte, „Tondichtungen“. Ravel bezieht sich jedoch nur in freier Form auf die Texte Bertrands. Die Prosagedichte setzt der Komponist in musikalische Prosa um, wobei die bereits in der Erstausgabe des „Gaspard“ beigefügten Gedichte in der Musik weniger programmatisch abgehandelt, als nur in einzelnen Momenten durchscheinen.

In Ondine steigert Ravel die in den „Wassermusiken“ Jeux d’eau und Une barque sur l’océan angelegte Arpeggientechnik zu äußerster Virtuosität. Zusammen mit den Tremolos und den Weiß- sowie Schwarztasten-Glissandi musikalisieren die alles überschwemmenden Arpeggien flüssige Bewegungen, von den Regentropfen bis zu den Wellen im Strom. Ravel verlangte viel Pedal, zu Beginn sogar zwei Pedale gleichzeitig, und schrieb über Perlemuters Partitur: „schneller, verschwimmender“. Bertrands Gedicht handelt von hoffnungsloser Liebe der Wassernixe zu einem (menschlichen) lyrischen Ich. Einzelne Stichworte und Textpassagen lassen sich bestimmten musikalischen Abläufen zuordnen. So versinnbildlichen die asymmetrisch bewegten Tremoli die am Fenster herabrieselnden Regentropfen. Zu diesem Ostinato-Klangschleier, dessen Cis-Dur-Dreiklang von der Wechselnote a eingetrübt wird, erklingt ab dem 3. Takt Undines flüsterndes Lied mit dem gebrochenen gis-Moll-Dreiklang. Dieses „chanson murmurée“ (4. Strophe) durchzieht die ganze Musik wie eine unendliche Melodie („très doux et très expressif“). Dieses „Murmeln“ glaubt der Hörer (als innere Stimme?) auch dann zu vernehmen, wenn sich die sie umgebende Figuration virtuos verselbständigt. Konkret szenisch wird die Musik kurz vor der Coda, wo plötzlich im „Très lent“ ein trauriger Solo-Gesang in d-Moll anhebt (T. 84-87): „Und als ich ihr antwortete, dass ich eine Sterbliche liebte, weinte sie, schmollend und vergrämt, einige Tränen…“. Die anschließende „Rapide et brillant“ zu spielende Coda (T. 88 ff.) wallt in fulminante Doppel-Arpeggien im Fortissimo auf, und lässt Undines kurze Trauer in plötzliches „Gelächter ausbrechen“. Schließlich verschwindet Undine „in Regengüsse, die weiß entlang meiner blauen Glasfenster flossen“ mit einem im dreifachen Piano auslaufenden, und, wie zu Beginn des Stücks, von der kleinen Sexte a getrübten Cis-Dur-Arpegien.

Mit Le Gibet („Der Galgen“) wählt Ravel für seinen langsamen Mittelsatz eines der makabersten Gedichte von Bertrand. Es handelt sich um eine der zahlreichen bizarren Galgenfantasien, die als Schauerballaden von Gehenkten in der schwarzer Romantik über Edgar Allen Poe’s Geschichten bis hin zu den Zombie-Filmen des späten 20. Jahrhunderts („Ein Zombie hing am Glockenseil“ von 1980) beliebt waren. Ravel malt musikalisch ein unheimliches Bild, eine morbide Momentaufnahme, die sich in ihrer monomanen Monotonie ohne jegliche Agogik qualvoll in die Länge zieht, ab T. 28 auch ausdrücklich „sans expression“. Obwohl Le gibet dem Kritiker Jean Marnold gewidmet ist, für den es nach Ravel das einzige Stück des Zyklus sei, das er spielen könne, ist es mit nicht weniger als 27 verschiedenen Anschlagsarten im Sinne einer orchestralen Klangfarbenstudie das anspruchsvollste Stück des Zyklus. Ravel wechselt von der hellen Sieben-Kreuzvorzeichnung der Ondine zur düsteren Vorzeichnung mit sechs b (es-Moll) im Galgenstück . Das Stück verbleibt ohne Schreckensschreie dynamisch im pp-ppp-Bereich (mf nur einmalig in T. 17-19). Der stets gedämpfte oder erstickte Schrecken pocht dabei unablässig im drohenden Hintergrund. Vier motivische Elemente fangen die Stimmung des Gedichts ein, dessen Einzelheiten vorsichtig musikalischen Erscheinungen zugeordnet werden können. Zentral ist der doppelte (Oktav-) Glockenton (b/ais), der wie beim Dopplereffekt als rhythmisch verschobenes Ostinato das ganze Stück durchzieht („Die Glocke, die an den Mauern einer Stadt läutet“). Um dieses Todesglocken-Zentrum kreisen archaisch organale, finstere Doppelquinten, die einen hohlen, wie knöchernen Klang erzeugen („die Nacht und der Tod, die alle Sachen befallen“), ein verzerrter Nachhall des düsteren Trauermarschs aus Chopins Klaviersonate in b-Moll. Als drittes Element erklingt ab T. 6 eine Melodie, deren zentraler Ganzton des-es von zwei Halbtönen umklammert wird (es-fes und des-c), was einen engen, zerquälten Ausdruck hervorruft (der gedehnte „Seufzer“ des Gehenkten). In T. 28 erklingt diese Melodie „sans expression“ einsam und kalt über der bloßen Todesglocke. In der krebsgängigen Form f-cis-e-f erinnert dieses Motiv an die Titelmelodie des Films „Spiel mir das Lied vom Tod“ (Ennio Morricone). Schließlich lässt Ravel ab T. 20 Akkorde mit einem Abstand von über vier Oktaven bis zu chromatischen Terzen zusammenlaufen und ausdünnen („vielleicht eine Spinne, die eine halbe Elle Nesseltuchs als Halsbinde um diesen erdrosselten Hals wirkt?“ Vgl. die „Insekten-Rhapsodie“ der um eine Lichtquelle flatternden Noctuelles aus den Miroirs!). Die melodisch-harmonischen Motive erklingen zu dem ostinaten Glockenton in freier Reihenfolge und in immer neuer tonaler Beleuchtung, ohne programmatisch dem exakten Verlauf des Gedichts zu folgen. „Eine der dunkelsten Nächte der gesamten Musikgeschichte“ nennt der Ravel-Biograf Marcel Marnat das Galgenstück. Es ist starr vor Todesschrecken, es bleibt statisch und verebbt so, wie es begann. Es ist, als ließe uns der sonst distanzierte Ravel einmal kurz in seine Abgründe blicken. Manifestiert sich in dem qualvollen 2. Satz des Gaspard der langsame Tod des Vaters, der während der Komposition seines Sohnes zerebral gelähmt war, und ihn nicht mehr erkennt? Oder handelt es sich um eine künstlerische Selbstpositionierung gegenüber Debussy? Ravel zitiert seinen Kollegen aus dessen Hommage à Rameau (Images I von 1903, T. 31-36 im Vergleich zu Le gibet, T. 12-14), um daraus etwas ganz Eigenes zu machen. Vielleicht aber lässt Ravel, ergänzend zu Bertrands Gedicht, nach Grille, Fliege, Stutzkäfer und Spinne nun auch einen Komponisten im Galgenstück auftreten, ohne ihm, wie auch nicht dem Kritiker Marnold, gleich das Seil darreichen zu wollen. Ravel hat im gleichen Jahr wie Gaspard mit der Komposition von Ma Mère l’oye begonnen, dessen kindermärchenhaftes Sujet als Reaktion auf den Zombie-Zyklus gesehen werden kann. Im 4. Satz der Gänsemutter („Die Gespräche der Schönen mit dem wilden Tier“) verwandelt sich das Biest in einen Prinzen. Ging es im Gaspard noch mit dem Teufel zu, so hat Ravel ihn mit dem geläuterten Gänse-Biest ausgetrieben.

Im dritten und letzten Satz des Gaspard springt endlich Scarbo leibhaftig aus dem Untergrund. Er ist der Gnom, der Höllenzwerg, der listige Kobold, der allerlei atemberaubenden Schabernack treibt, nicht zuletzt mit dem geplagten Pianisten. Scarbo ist der Poltergeist, der nachts die Schlafenden heimsucht, sich unterm Bett, im Kamin oder im Schrank versteckt und unerkannt verschwindet. Im Gegensatz zur äußersten Statik des Galgenstücks ist der quirlige Scarbo ein rasend groteskes und dämonisches Scherzo, voll nervöser Bewegung, diabolischer Bocksprünge, ein diskontinuierliches, ständig durch Generalpausen unterbrochenes Perpetuum mobile. Mit seinen horrenden spieltechnischen Anforderungen gehört der Satz zum Schwierigsten und Virtuosesten was Ravel je geschrieben hat, ja vielleicht bis dahin überhaupt je geschrieben worden ist. Seinem Schüler Maurice Delage erklärte Ravel, mit Scarbo habe er ein schwierigeres Werk als Islamey“ (Balakirew) schreiben wollen. Aus dem pianistischen Hexenkessel zauberte Ravel nicht nur ein ganzes Orchester mit Schlagwerk hervor (Partitur-Einträge Ravels in T. 1: „wie ein Kontrafagott“ und in T. 2 ff.: „wie eine Trommel“), sondern auch harmonische Neuerungen wie die chromatisch auf- und abwärts geführten Großsekund-Parallelen (T. 448 ff.), das geräuschartige Grollen in der Kontraoktave (T. 430) oder

das grell dissonante Akkordpaar in T. 121, das Ravel mit dem Ausruf „Quel horreur!“ (T. 121) kommentiert haben soll und mit dem er Schönbergs emanzipierter Dissonanz näher steht, als irgend ein anderer französischer Komponist um 1908. Ravel boten sich für seine Vertonung genügend akustische Momente im Gedicht an: Scarbo’s „Lachen“, „das Knirschen seiner Krallen“, er hüpft „auf einem Fuße (…) wie die von der Kunkel einer Hexe herabgeglittene Spindel“, oder es tönt „eine goldene Schelle (…) an seiner spitzen Kappe“. In der Musik sind es irrsinnige Kobold-Sprünge, nervöse Staccati, „lachende“ oder polternde Tonrepetitionen, kurze Akkord-Aufschreie, schillernde Klangflächen mit wispernder innerer Bewegung. Am Ende hört die Musik, wie so oft bei Ravel, „sans ralentir“ auf, wie Scarbo, der „plötzlich ist er nicht mehr da“ ist. Trotz der disparaten, sprunghaft erscheinenden Form kann eine eingehende Analyse (wie die von Olivier Messiaen) zeigen, dass sich hinter der chaotischen Oberfläche eine streng organisierte, äußerst dichte formale Konstruktion verbirgt, die jedoch alles andere als eine uneingestandene, große romantische Sonate ist. „Ich wollte eine Karikatur der Romantik anfertigen“, gestand der Komponist seinem Interpreten Vlado Perlemuter. Es ist allenfalls eine Karikatur des romantischen Schauer-Sujets, nicht der romantischen Musik, die Ravel mit seinem Scarbo weit hinter sich gelassen hat. „Musik ist das nicht!“, hatte Robert Schumann resigniert zum „grausigen Geist“ des Perpetuum-mobile-Finale aus Chopins b-Moll-Sonate gemeint, das „eher einem Spott als irgend Musik“ gleiche. Was würde er zu Scarbo sagen?

Das Menuet sur le Nom d’Haydn entstand 1909 anlässlich des hundertsten Todesjahr Joseph Haydns. Die Societé Musicale Indépendante hatte ein Tonbuchstaben-Motiv (ähnlich dem berühmten B-A-C-H) ausgegeben mit der Aufforderung an prominente Komponisten, ein Stück zum Gedenken an den großen klassischen Meister zu komponieren. Neben Ravel beteiligten sich Claude Debussy, Paul Dukas, Vincent d’Indy, Charles-Marie Widor und Reynaldo Hahn. Ihre Stücke wurden 1910 in einer Sondernummer der Revue musicale gedruckt. Ravels Beitrag über dieses fünftönige Motiv H-A-Y-D-N (= h’-a’-d”-d”-g”) ist weniger „Menuet à la manière de Haydn“ als „à la Ravel“. Die Anklänge seiner Hommage beschränken sich auf die Wahl einer der zentralen Gattungen Haydns, dem Menuett (von den sechs publizierten Beiträgen nur noch bei Vincent d’Indy), auf die gefestigte G-Dur-Tonalität, auf galant-empfindsamen Seufzer, Terzengänge, Verzierungen und auf die durch Haydn zur Hochkultur entwickelte motivisch-thematische Arbeit, die im französischen Impressionismus sonst nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ravel behandelt das Tonbuchstabenmotiv in seinem 54-taktigen G-Dur-Gedenkmenuett fast schon reihentechnisch. Die Grundgestalt verwandelt er zum Krebs (auch transponiert) und zur Krebsumkehrung, er kehrt die Quarten in kadenzierende Quintfälle um und führt diese Gestalt-Transformationen (auch in abgespaltener Form) durch die verschiedenen Stimmen des Tonsatzes hindurch (im Gegensatz zur Oberstimmenlastigkeit des Motivs bei Debussy). Kurz vor Schluss kulminiert diese hochkonzentrierte motivische Verarbeitung in der kontrapunktischen Kombination der Originalgestalt im Diskant mit deren rhythmischer Augmentation im Bass. Trotz seiner hörbaren Haydn-Hommage ist dieses Menuett ein echter Ravel. Das à la Haydn motivisch dicht gewebte Netz wird von einer impressionistischen Harmonik umhüllt, wie Ravel sie bereits im frühen Menuet antique von 1895 entwickelt hatte. Zu Beginn wird H zur None in a-Moll, A umgekehrt zur Septime von h-Moll, D wird Septime von e-Moll und G dessen Terz. Im sechstönigen Tredezimakkord über G (T. 47) ist sogar das vollständige Haydn-Motiv aufgespeichert. In den Takten 38-42 erklingen moderne Akkordmixturen mit konsequent chromatisch gegenläufigen Klängen über dem gedehnten Orgelpunkt H, des Initials von Haydn, der hier wie ein musikhistorisches Fundament wirkt, das in einer zweiten Bassstimme noch einen „Nachschlag“ erfährt (T. 38). Im vorgeschriebenen pianissimo wirkt die eigentlich hochdissonante Stelle eher mystisch als bedrohlich. Entsprechend ist sie nach Ravel „geheimnisvoll und gedämpft“ zu spielen. Von den Klassikern hat Ravel Mozart am meisten geliebt. Mit diesem Menuett jedoch „baut“ Ravel auf Haydn und betrauert ihn zugleich mit unaufgelösten dissonanten Seufzern über dem dreimal erklingenden Liegeton zum Aspirationslaut H.

In einer Art „Quiz-Konzert“ der von Ravel mitbegründeten Societé Musicale Indépendante (S.M.I) wurden 1911 neben Werken anderer Komponisten auch die Valses nobles et sentimentales uraufgeführt. Erraten werden sollten die (anonym gebliebenen) Komponisten, deren Werke der Pianist und Widmungsträger der Valses, Louis Aubert spielte. Ravel erinnert sich an diesen für ihn skandalösen Abend in seiner nüchtern berichtenden autobiographischen Skizze: „Der Titel Valses nobles et sentimentales kennzeichnet zur Genüge meine Absicht, eine Kette von Walzern nach dem Beispiel Schuberts zu komponieren. Auf die Virtuosität, die bei Gaspard de la nuit die Grundlage bildet, folgt eine deutlich abgeklärtere Schreibweise, die die Harmonie härtet und die Konturen der Musik hervortreten lässt. Die Valses nobles et sentimentales wurden unter Protest- und Buh-Rufen erstmals in einem Konzert der S.M.I. aufgeführt, in dem die Namen der Autoren nicht bekanntgegeben wurden. Die Hörer stimmten über die Autorschaft jedes Stücks ab. Die Vaterschaft der Walzer wurde mir zuerkannt – mit einer schwachen Mehrheit. Der siebte scheint mir der charakteristischste.“

Die nähere Bezeichnung seiner Walzer hat Ravel aus Schuberts Zwölf „Valses nobles“ (D 969) und den Vierunddreißig „Valses sentimentales“ (D 779) entlehnt und zu einem Titel zusammengefasst. Im Fall Schubert stammten die Titel nicht vom Komponisten, sondern vom Verleger Antonio Diabelli, um den Verkauf beim walzersüchtigen Wiener Publikum anzukurbeln. Warum sich Ravel auf das Beispiel Schubert bezog, ist zumindest in stilistischer Hinsicht nicht ganz nachvollziehbar. Denn Ravels Valses schlagen vielmehr den Ton des „Walzerkönigs“ Johann Strauss an, als den (ländlerhaft-rustikalen) Ton Franz Schuberts. Als „à la manière de Strauss jr.“ kann die großformale Anlage von Einzelwalzern gelten, die untereinander thematisch zusammenhängen, mit einer langsam sich vortastenden Introduktion (bei Ravel erst in Nr. 7) und einer reminiszenzartigen Coda (bei Ravel der Épilogue). Der Strauss’sche Ton erscheint bei Ravel auch im Detail: im vierten Walzer sind es die melodisch sprunghaften Drehbewegungen mit chromatischen Terzen, im siebten handelt es sich um eine Kombination melodisch-rhythmischer Motive aus Walzer I und III aus dem „Wiener Blut“.

Schließt man aus, dass Ravel einfach nur der sprachliche Klang dieses Titels faszinierte, wie das bei den Assonanzen in der Pavane pour une infante défunte von 1899 der Fall war, wird man die Adjektive „noble“ und „sentimentale“ als Ausdruck musikalischer Charaktere betrachten, die mehr oder weniger kontrastieren. Und zwar auf zyklischer Ebene in der regelmäßigen Abfolge „nobler“ und „sentimentaler“ Sätze, als auch innerhalb der einzelnen Walzer. Was aber genau soll „nobel“ und „sentimental“ an den Valses sein? Das Sentimentale in der Musik ist leicht nachzuweisen. Es scheint mehr mit dem langsamen Walzer in zurückgenommener Dynamik und kantabler Melodik mit empfindsamen Vorhalten in Verbindung zu stehen (Schuberts Valses sentimentales neigen gegenüber seinen Valses nobles insgesamt mehr zum „piano“). Zum Sentimentalen gehören auch die sonst bei Ravel kaum auftretenden Spielanweisungen eines gehäuften und intensivierten „expressif“ (Nr. 2), „dans un sentiment [!] intime“ (Nr. 5), très doux et une peu languissant“ (Nr. 6).

Im Gegensatz zum sentimentalen langsamen Walzer ist das „Noble“ schwerer zu bestimmen. Zumal bei einem Tanz, in dem sich eng umschlungene Paare in Ekstase walzten. Weitet man den Begriff des Noblen vom Ethos ins Pathos aus, kann darunter auch im spöttischen Sinn alles Luxuriöse und Opulente verstanden werden. In Anlehnung an den „Stylus luxurians“ der „Seconda prattica“ des 17. Jahrhunderts zeigte sich dies an den Valses in der nahezu verschwenderischen Fülle an Dissonanzen, welche „die Harmonie härtet“. Zugleich distanziert sich Ravel von diesem Luxus durch die asketische Verwendung der einfachen Form, der Reduktion von Virtuosität und der „deutlich abgeklärteren Schreibweise“ in Gestalt eines transparenteren, ausgedünnten Klaviersatzes, der „die Konturen der Musik hervortreten lässt.“ Letztlich zielt Ravel auf die Nobilitierung des Walzers als niedere Gattung zur hohen Kunstform nach dem Vorbild Franz Schuberts und seiner Walzer komponierenden Nachfolger wie Chopin oder oder Liszt. Die kunstvolle Veredelung geschieht in den Valses vor allem durch die Verwischung des eindeutigen Walzermetrums in Form von längeren Hemiolenbildungen (wie in Nr. 3, T. 25-31, Nr. 4, T. 1 ff., Nr. 6, linke Hand), durch unregelmäßige, holprige Phrasenlängen (Nr. 7, T. 19 ff.), durch Akkordverfremdung mittels ungewöhnlicher und unaufgelöster Dissonanz-Zusätze (gleich zu Beginn des Zyklus), durch Kontrastierung hochchromatischer mit neomodalen Partien (Nr. 2, T. 1-16: chromatisch geführte übermäßige Dreiklänge versus g-dorisch), durch Ausweitung eindeutiger Tonalität ins Bitonale (Nr. 7, T. 67-101, von Ravel in einer eigenen Analyse als unaufgelöste Vorhalte bezeichnet) oder ins streckenweise Atonale. So ist der vierte Walzer ohne Generalvorzeichnung, dabei aber hochchromatisch und unterliegt zweimal dem Sog nach As-Dur, mit dem das Stück im offenen Sextakkord endet (in allen anderen Walzern stimmen Generalvorzeichen und Haupttonart überein). In Verbindung mit einer zuvor nie dagewesenen modernen Harmonik vermeidet Ravel eine allzu sentimental erscheinende Walzerseligkeit. Schließlich hebt Ravel seine Klavierwalzer ein Jahr später in einer Fassung für Orchester, bei der die harmonischen Härten abgemildert werden, auf die vornehmere Gattung des Balletts, dem er den Titel Adélaïde ou le langage des fleurs nebst einer sentimentalen Handlung beigibt (vgl. Robert Schumanns Idee einer „musikalische Blumensprache“ und seine poetische Rezension in Form einer Davidsbündlerszene zu Schuberts 16 Deutsche & 2 Ecossaisen, D 783). So könnte man Ravels edle und gefühlvolle Walzer auf die Formel bringen: Nobilitierung des Sentimentalen oder das Noble, das auch ein wenig sentimental sein darf.

Ravel war nicht so naiv, dass er nicht vorausgesehen hätte, welche Sprengkraft bereits die ersten Takte seiner alles andere als harmlosen Valses barg, die auf dem Vulkan zu tanzen scheinen. Er war sich auch bewusst, wie neuartig dieser harmonisch verschärfte Stil in seinem Oeuvre war, so dass er selbst seine Freunde und das erlauchte Publikum im Quiz-Konzert vor den Kopf stoßen musste, wie er es mit den Miroirs schon einmal getan hatte. Fast möchte man glauben, Ravel habe mit seinen provozierenden Valses die im Wahn walzenden Wiener persifliert, die sich um die eigene Achse drehten, bis sie alles nur noch verzerrt wahrnahmen. So gesehen könnte man das Hohngelächter der Konzertteilnehmer als unbeabsichtigtes Kompliment auffassen, das auf tieferem Verständnis der angenommenen Komponistenintention beruht. Als Ravel bei der Uraufführung seines Bolero eine Frau ausrufen hörte: „Hilfe, ein Verrückter!“, soll er auf seine typisch trocken-ironische Art erwidert haben: „Die hat’s kapiert!“ Diese Reaktion Ravels könnte man sich auch für die Valses vorstellen. Was soll also die Aufregung, das anonyme Konzert-Experiment als „Desaster“ zu bezeichnen, wie es der aufführende Pianist Aubert getan hat. Handelt es sich doch nur um „das köstliche und immer neue Vergnügen einer nutzlosen Beschäftigung“, das Ravel aus einem Text Henri de Régniers zum Motto seiner Valses erhoben hat.

Das zarte und subtile Prélude hat Ravel 1913 als Probestück für die Prima-vista-Prüfung am Pariser Conservatoire geschrieben. Es ist der 14-jährigen Jeanne Leleu gewidmet, die drei Jahre zuvor Ma Mère l’oye mit uraufgeführt hatte. Ravel hat die Sendung des Stücks an Leleu mit der Beischrift versehen: „Als Erinnerung an einen Künstler, den Ihre musikalischen Fähigkeiten aufrichtig berührt haben.“ Das nur 27 Takte umfassende, im p bis pp verhaltene und „Assez lent et très expressif“ zu spielende lyrische Klavierstück kann der Prüfungskandidat seine Vom-Blatt-Spiel-Fähigkeiten mehr im Ausdruck als in virtuoser Technik unter Beweis stellen. Mit seiner ausgeprägten Melodik, den sie harmonisch oft überraschend beleuchtenden Akkorden, mit den zahlreichen „Reizdissonanzen“ (Sekunden, große Septimen), dem Wechsel von diatonischen (modalen) und chromatischen Partien, auch überlagernd (T. 13-15), mit der Bitonalität im linearen Zusammenhang (T. 4-6) und mit der zwischen mehreren Tonarten schwebende Noch-Tonalität (Ineinandergleiten von e-äolisch – a-Moll – C-Dur zu Beginn und ähnlich am Schluss) ist dieses klavieristische Kleinod ein Konzentrat des Ravelschen Stils.

Den Anstoß zu den 1913 komponierten Stücken À la manière de… (Im Stile von…) erhielt Ravel von Alfredo Casella, der ihn im Chabrier-Stil über eine Arie aus Gounods Faust am Klavier improvisieren hörte, und den Komponisten bat, es aufzuschreiben. Dies kam Ravels genereller Lust entgegen, sich Fremdes anzueignen. Er fügte noch ein zweites Stück à la Alexander Borodin hinzu und ein Jahr später erschienen beide Stücke in einem Heft.

À la manière de Borodine ist ein schneller Walzer in Des-Dur. Alexander Borodin, dessen Anfangsthema der 2. Sinfonie den „Apachen“ als Sammelzeichen galt, hatte als wichtiger Vertreter der russischen Schule große Bedeutung für die Entwicklung des französischen Impressionismus, insbesondere auf dessen neuartige Harmonik. Borodins Einfluß im Valse (Untertitel) zeigt sich in den sich steppenartig ausbreitenden Klangflächen und Liegetönen, in der gehäuften Verwendung farblicher Sekundklänge, in den slawischen Akzenten im Mittelteil (chromatischer Anapäst mit zwei Achtel auf der Takteins) sowie in der großangelegten, 25-taktigen Steigerung vom pp zum wilden ff-appassionato über den Orgelpunkten B und As. Ravels Anteil ist der „Valse“ selbst (Borodin hat keinen Walzer geschrieben), der mit seinen melodisch springenden Drehbewegungen und der synkopierten dritten Taktzeit an die „Elegance“ seiner Valses nobles et sentimentales erinnert. So ist das Stück keine reine Stilkopie, sondern schwebt zwischen à la manière de Borodin et de Ravel.

Emmanuel Chabrier war Ravels heimlicher Lehrmeister in jungen Jahren. Er verehrte ihn noch mehr als Eric Satie: „Chabrier ist der persönlichste und französischste unserer Komponisten., schrieb Ravel in einem Artikel. Hatte sich Ravel noch ein Jahr vor den beiden À-la-manière-Stücken über die Mängel in seinem frühen Pavane pour une infante défunte von 1899 beklagt, die er neben der „armseligen Form“ auch in dem „allzu spürbaren Einfluß Chabriers“ sah, so schreibt er jetzt, 1913, ostentativ ein Stück À la manière de Chabrier. Ravel tut dies jedoch in zweifacher Brechung. Er gibt vor, wie Chabrier das Werk eines anderen Komponisten bearbeitet hätte, in diesem Fall das Blumenlied aus dem III. Akt des Faust von Charles Gounod. Ravels Nachahmung einer möglichen Opernparaphrase Chabriers zeigt sich deutlich im Vergleich der Ravelschen Bearbeitung mit dem Original Gounods, von dem er sich deutlich abhebt. Näher steht das C-Dur-Stück dem musikalischen Jargon Chabriers. Vollklingende Nonenakkorde wechseln sich mit einfacher Kadenz-Harmonik ab. Eleganter, duftiger Salonstil kulminiert durch rhapsodisch aufgefüllte Tonräume in weitgespannte Fermatenklänge. Die Paraphrase bezaubert mit dem harmonisch-melodischen Charme Chabriers (vgl. die Spielanweisung in T. 10: „avec charme“!). Von Ravels 1913 entwickelten eigenen Stil (wie im Prélude) ist es ebenso weit entfernt wie von der Originalvorlage Gounods. Es ist die Momentaufnahme einer Improvisation à la Chabrier.

Mit der Komposition von Le Tombeau de Couperin begann Ravel im Juli 1914. Nach Unterbrechung durch den 1915 freiwillig erfolgten Einzug zum Militär (bis zum Frühsommer 1917) vollendete er sein Werk im November 1917. Ravel widmete die sechs Sätze je einem der im Krieg umgekommenen Kameraden und Freunde. Bei dem musikalischen Grabmal handelt es sich jedoch nicht um eine Trauermusik auf die verstorbenen Freunde. Abgesehen von der Tatsache, dass Ravel mit Konzeption und teilweiser Komposition seines Tombeau bereits vor Ausbruch des 1. Weltkriegs begonnen hat, weist die Musik selbst kaum Ausdrucksmittel von Trauer auf, allenfalls von stark sublimierter Trauer, die das künstlerische Ergebnis des Schocks sein könnte, den der Tod seiner Mutter, dem ihm am nächsten stehenden Menschen am 5. Januar 1917 ausgelöst hatte. Ravel hatte 1914 eine „französische Suite“ geplant, in der anstelle der „Marseillaise“ eine „Forlana und eine Gigue“ auftreten sollten, „aber kein Tango“. Später stellt er klar, dass sein Tombeau „weniger eine Würdigung Couperins als allgemein der französischen Musik des 18. Jahrhunderts“ darstelle. Dabei handelt es sich um ein Pionierwerk des französischen Neoklassizismus. Ravels „französische Suite“ ersetzt die vier Grundtänze Allemande, Courante, Sarabande und Gigue durch Forlane, Rigaudon und Menuet und umrahmt sie durch genuin instrumentale Sätze: zu Beginn ein Prélude mit Fuge und am Ende eine Toccata.

Während das Prélude mit seinen durchlaufenden Sechzehnteltriolen und für das Barock typischen Verzierungsfiguren von Vorschlägen, Praller und Mordenten an den Titelhelden Couperin erinnert, ist das brillante Finale der Suite mit seinen multiplen Tonrepetitionen mehr der Virtuosität eines Franz Liszt verpflichtet, dessen Études d’exécution transcendante sich Ravel während der Komposition zukommen ließ. Die Schreibart dieser Toccata hielt der Komponist „für vollendet“. Die Fugue, die ihr metrisch irreguläres Thema aus dem Prélude gewinnt, klingt wie ein lyrisch-impressionistisches Klavierstück, dem man die karge und strenge Fugentechnik mit den kontrapunktischen Künsten der Themenumkehrung, Engführung und deren Kombinationen gar nicht anhört. Handwerk durch Kunst zu verbergen, entstammt der Ästhetik des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Als Ravels einzig veröffentlichte Fuge, ist sie wohl eine späte Demonstration bzw. Reaktion auf den fünfmal vorenthaltenen Rompreis, zu dessen Voraussetzungen das konservative Pariser Conservatoire unter anderem die Verfertigung Fugen verlangte.

Von den drei Tanzsätzen erscheint die Forlane der interessanteste. Sie verdankt ihre Entstehung dem Vatikan. Papst Pius X setzte Anfang 1914 den unzüchtigen Tango auf den Index und empfahl statt dessen die aus dem Friaul stammende Furlana (aus dem auch Pius X stammte). Dass diese ebenso eine erotische Komponente besaß und angeblich von Kurtisanen getanzt wurde, entnahm Ravel einer Ausgabe der Revue musicale, der auch die Forlana von Couperin beigelegt war. Auf diese unfreiwillige Ironie der vatikanischen Verordnung reagierte Ravel in einem Brief vom Frühjahr 1914: „Ich maloche zur Zeit für den Papst. Wie Sie wissen, hat diese erhabene Person (…) vor kurzem einen neuen Tanz lanciert: die Forlana. Ich transkribiere zur Zeit eine von Couperin. Ich werde dafür sorgen, dass Mistinguett und Colett Willy sie in Männerverkleidung im Vatikan aufführen. Wundern Sie sich nicht über diese Rückkehr zum Glauben.“ Diese Ironie findet sich in der Forlane an der Gebrochenheit und Verzerrung der historischen Vorlage Couperins. Die fingierte Reinheit der kirchentonalen Diatonik überblendet Ravel mit dem am Ende zugespitzten Eindringen moderner, ans Atonale grenzenden polymodalen Chromatik, deren modernistischen und exotischen Verlockungen Ravel nicht widerstehen konnte und sicher auch nicht wollte.

Mit La Valse (1919/20) hat sich Ravel bereits 1906 beschäftigt, allerdings noch unter dem Titel „Wien, poème symphonique“. Als Diaghilev 1919 bei Ravel ein Ballet bestellte, änderte der Komponist diesen Titel in „La Valse. Poème chorégraphique“ um. Zunächst „pour orchestre“, dann, fast zeitgleich, erstellte Ravel zwei Fassungen für Klavier, eine für zwei Hände und eine vierhändige. Ob „Wien“ aufgrund der „Deutsch-Österreichisch-Französischen Feindschaft“ im 1. Weltkrieg aus dem Titel verschwand, bleibt Spekulation. Als Spielanweisung „Mouvement de Valse viennoise“ bleibt das Wienerische erhalten, denn der Wiener Walzer prägt Ravels La Valse, so dass die Annahme einer Hommage à Johann Strauss jr. nahe liegt. Ravel selbst sprach von „einer Art Apotheose des Wiener Walzers“. Der russische Ballettmeister Diaghilev hat die Aufführung seines Auftrags mit der Bemerkung abgelehnt: „Ravel, das ist ein Meisterwerk, aber das ist kein Ballett.“

Welche Art von Musik hat da Ravel komponiert, dass sie selbst einem Diaghilev nicht zum Tanzen geeignet erschien? Von den beiden formalen Großabschnitten reiht der erste, nach einer Einleitung, neun Walzer aneinander. Sie werden jeweils mit einer Kadenz deutlich voneinander getrennt, was in der Partitur optisch durch Doppelstriche gekennzeichnet wird. Dieser Teil erinnert an die Walzer-Ketten von Johann Strauss, und würde sich durchaus noch zum Tanzen eigen. Der zweite Großabschnitt ist weniger eine bloß variierte Reprise des ersten, sondern vielmehr Entwicklungsteil, der Fragmente des ersten Teils in mehreren Steigerungswellen durchführt.

Dieses dynamische Formkonzept zieht den Hörer in jenen „fantastischen und fatalen Wirbel“, der schließlich in die große Katastrophe kulminiert. Charakteristisch auf diesem Weg ist Ravels Umdeutung von vormals untergeordneten Begleitfiguren, die im zweiten Teil die Oberhand gewinnen und durch massive Einbrüche die unaufhaltsame Entwicklung vorantreiben. Zugleich zerstören sie die schönen und zusammenhängenden Walzermelodien aus dem ersten Teil, zersetzen den Walzer von innen heraus. Unterstützt wird dieser Auflösungsprozess durch eine bereits im ersten Teil sich ankündigende gärungsartige Chromatik, die sich im zweiten Teil, ebenso wie die Begleitfloskeln, in den Vordergrund spielet und dort ihr Tonalität zersetzendes Wesen treibt. Übrig bleiben nur noch Scherben. Im letzten Bruchstück wirken die zwei Takte wie angeklebt, versuchen vergebens, die Haupttonart D-Dur des ersten Walzers wiederherzustellen und lösen auch noch das elementarste des Walzers, den Dreivierteltakt in Quartolen auf (nur in der Orchesterfassung!). Ob Ravel an dieser Stelle den Humor Arnold Schönbergs besaß, der im Scherzo seines zweiten Streichquartetts, das den Übergang in die Atonalität markiert, das österreichische Volkslied „O du lieber Augustin, alles ist hin“ zitiert?

Die Zerstörungswut, die sich in La Valse hörbar breit macht und analytisch nachweisen lässt, führte zu unterschiedlichen Deutungen: von der Parodie auf den Wiener Walzer, Abgesang auf den Walzertaumel, Tanz auf dem Vulkan, über einem „danse macabre“ oder Totentanz im Kampf um Leben und Tod, bis zum Zusammenbruch der alten Welt durch den ersten Weltkrieg. 2011 hat Ulrich Krämer La Valse als „programmatisch-musikalische Umsetzung von Baudelaires Fortschrittskritik betrachtet. Der Walzer als Sinnbild bürgerlichen Fortschrittsoptimismus sei dem Untergang geweiht. Ravel selbst distanzierte sich von außermusikalischen Deutungen, seine eigenen eingeschlossen, und betonte, dass sein Werk „essentiell choreographischer Natur“ sei. Diaghilev hat es ihm nicht gedankt.

Alfonso Gómez (c) Johann Christian Schulz
Maurice Ravel (1875-1937)
CD 1
1. Jeux d’eau 5:24
2. Pavane pour une infante défunte 6:02
Miroirs
3. Noctuelles 4:33
4. Oiseaux tristes 3:55
5. Une barque sur l’océan 7:12
6. Alborada del gracioso 6:36
7. La vallée des cloches 5:35
Gaspard de la nuit
8. Ondine 6:22
9. Le gibet 6:13
10. Scarbo 9:39
11. La Valse 12:25
Total time CD 1: 1:14:02
CD 2
Sonatine
1. Modéré 4:16
2. Mouvement de Menuet 3:27
3. Animé 4:03
4. Prélude 1:37
5. Menuet sur le nom d´Haydn 2:09
Le tombeau de Couperin
6. Prélude 2:57
7. Fugue 3:51
8. Forlane 5:46
9. Rigaudon 3:44
10. Menuet 5:23
11. Toccata 4:21
12. À la manière de … Emmanuel Chabrier 2:02
13. À la manière de … Borodin 1:53
14. Menuet antique 6:08
15. Menuet (1904) 1:15
16. Valses nobles et sentimentales 15:12
Total time CD 2: 1:08:14
Total time CD 1 + CD 2: 2:22:16

 

Cookie Consent with Real Cookie Banner